Um die Pointe vorweg zu nehmen: sehr weit war es nicht. Überhaupt, dass ich es aus dem Zelt heraus geschafft habe, gleicht einem Wunder. Die halbe Treppenstufe, die vor dem Küchenhäuschen ist, schaffe ich nur mit festhalten herab. Lektion: Bergwandern und Fahrradfahren beansprucht verschiedene Muskeln. Bergauf gehen ist ähnlich wie treten, aber bergab ist definitiv anders. Wer dann noch versucht, im schwierigen, steilen Gelände mit norwegischen Extremläufern Schritt zu halten, brockt sich sein Übel ein. Und das darf ich heute auslöffeln. Nun gut, schauen wir mal, wie weit die Beine mich heute tragen. Aber wie gesagt, andere Muskeln, also geht Radeln noch. So einigermaßen zumindest.
Zunächst schlage ich mich mit Computern herum. Davon hab ich ja 3 dabei: Garmin Uhr, Garmin Fahrrad Navi, Handy. Die Uhr hab ich zur Pulskontrolle dabei, denn eigentlich will ich meinen Puls unter 140 halten, also keinen dollen Sport machen. Das passiert mir zu leicht, dass ich zu schnell bin, und nach ein paar Stunden gar nichts mehr geht. Zudem ist die Uhr gut, um Wanderungen aufzuzeichnen. Das Navi dient eben zur Navigation, und dazu, dass ich weiß, was mich erwartet, damit ich mir die Kräfte einteilen kann. Und das Handy dient dem ganzen Rest: Jagd nach Kalorien, finden und aussuchen von Zeltplätzen, mit Zuhause telefonieren, Bilder machen, stundenlang Blog schreiben. Ja, ich schreibe das hier alles mit 2 Daumen.
Theoretisch synchronisieren die Geräte fleißig, aber es ist wie Magie, oder ein Zaubertrick: man ist froh, wenn es klappt, weiß aber gar nicht, was eigentlich passiert. Und wehe es geht nicht. Ich wollte aber die Wanderung von gestern unbedingt auf Strava haben. Nunja. Irgendwann hatte ich den richtigen Zauberspruch gesagt (nein, der war nicht jugendfrei) die richtigen Runen in die Luft gemalt, und die Rituale des Neustartens korrekt durchgeführt, und schon – hex hex – hat es geklappt. Endlich. Um 10:30 war ich dann startklar.
Die Testfahrt, ob überhaupt was geht, ist nicht weit. Gleich hier in Lom steht eine Stabkirche, die schau ich mir gern an. Sie ist öfter vergrößert worden, so dient sie heute noch der gar nicht mal so kleinen Gemeinde als Alltagskirche. Aber es fehlt ihr etwas der verschrobene Charme und die witzigen Details. Trotz der vielen Umbauten hat sie aber noch das Flair einer Stabkirche, welches ich zu beschreiben nicht im stande bin.
Die zweite Testfahrt verläuft auch gut, und komplett innerhalb von Lom. Hier gibt es tatsächlich ne Bäckerei, die mir Aina auch empfohlen hat. Na, das ruft doch nach Süßteilchen und nem Brot auf Vorrat! Aber man merkt deutlich, dass Lom ne sehr touristische Stadt ist. Authentischen Kontakt bekommt man hier nicht.
Und endlich geht es wirklich los. Naja, eigentlich hab ich mich etwas davor gedrückt, immerhin ist es schon Mittag. Und der Wind hat auf West gedreht, genau gegen meine Richtung. Berge fahren finde ich okay, denn da kann man nicht cheaten. Aber Gegenwind hat was von Pech: paar Stunden früher oder später, oder an nem anderen Tag, und schon wäre man doppelt so schnell. Irgendwie kommt bei mir nicht der gleiche Ehrgeiz auf, als wenn ich die Schwerkraft bekämpfe.
Die E15, auf der ich fahre, ist die klassische Route zum weltbekannten Geiranger Fjord. Daher ist hier viel auf Saisontourismus ausgelegt, und in der jetzigen Spätsaison ist immer noch recht viel los. Ich biege aber vor dem Geiranger Fjord links ab auf den Gamle Strynefjellsvegen nach Stryn. Also heute biege ich nirgends mehr ab, außer zum letzten Supermarkt und direkt anschließend zum letzten Campingplatz, bevor der Anstieg beginnt.
Wie ich mich nämlich Kilometer für Kilometer gegen den Wind dahin schleppe, ertappe ich mich dabei, abzuschätzen, wie weit die es heute schaffen könnte. Dabei will ich schon längst nicht mehr. Also lass ich es. 30km sind geschafft und ein paar futzelige Höhenmeter, die ich morgen sicher nicht vermissen werde. Immerhin, besser als nix, und für heute allemal genug.
Nach den letzten zwei eindrücklichen Tagen, dem Rausch von Sognefjell und Jøtunheimen, muss ja der Kater folgen. So nehme ich mir meine trübe Stimmung nicht krumm, sondern nehme sie hin, als was sie ist: das Tief nach dem Hoch, und morgen geht es weiter. Nicht jeder Tag kann bombastisch sein, egal wie toll die Erlebnisse und Landschaft.
Zum dauerhaften Glücklichsein sind wir Menschen eh nicht ausgelegt. Die Frage, die mich leitet, ist nicht „Was macht mich glücklich?“ sondern vielmehr „Wofür bin ich bereit zu leiden?“ Die Momente der Glückseligkeit sind immer kurz und vergänglich, das kann nicht Ziel sein, muss scheitern. Die meiste Zeit im Leben ist Arbeit und Schuften und Leiden. Und das ist okay. Also, wofür bin ich bereit zu leiden? Für Fahrradfahren in Norwegen allemal. Und sobald einem das mal klar ist, kann man das Leid auch einfacher hinnehmen. Da ist es trotzdem, aber es ist okay, und Teil des Ganzen. So, philosophischer wird es heute nicht mehr, versprochen.