Tag 19: Trotzig nach Gudvangen

Trotzig sein kann ich. Ha! Das ist das Motto des Tages, jawohl. Erstmal steh ich trotz wamem Kuschelfeeling um 7 auf. Trotz Regen in der Nacht ist das Zelt schon fast trocken, denn der Wind weht kräftig. Trotz der extra Meter, gegen welche die Beinchen protestieren, gehe ich und pflücke mir ein paar Pflaumen – wurde mir gestern erlaubt – und schneide sie, trotz großem Hunger, geduldig ins Müsli. Und trotz der müden Oberschenkel und des schönen Fleckchens hier fahre ich weiter. Irgendwie muss ich, zumindest noch eine Etappe, dann ist ja vor dem großen Pass nach Lærdal eh Pause angesagt. Also los.

Frisches Obst hatte ich zuletzt in einem anderen Land.
Der kleine Fjordarm mit seinem sehr milden Klima, der wettergeschützten Lage, und dem riesigen Hotel.

Erstmal geht es rauf. Klar, wenn man am Ende vom Fjord ist, gibt es hier keine Alternativen. Es geht durch schönen Wald, es ist ruhig, läuft gut. Geht doch. Oben auf 370m angekommen bläst mir gewaltig der zelttrocknende Wind entgegen. Ja, da war doch was, dieses wesentliche Element, das bisher so zahm war. Ich trotze dem Lüftchen, das mich trotz Sonne und Anstrengung immer wieder frösteln lässt. Dafür isses hier hübsch, und die baldige Abfahrt macht Spaß. So, wieder unten.

Kaum oben, gibt es nen See. Ist hier echt die Regel.

Mir kam vorhin schon ein weißhaariger Mann auf nem Mountainbike entgegen, der kommt nun von hinten ran, als ich mich orientiere muss – trotz Navi. Stellt sich raus, er ist taub, und immer gewesen, spricht aber völlig normal und wohl akzentuiert, liest Lippen als wäre es nix. Und das als Norweger auf Englisch! Ich muss ihn bewundern, das ist echt stark. Er hat seine Tour fast hinter sich, wünscht mir eine gute Reise, und schon kämpfe ich alleine gegen den Wind, jetzt aber dazu bergauf. Ich werde etwas grimmig und – du hast es erraten – trotzig.

Ein Wasserfall entschädigt etwas, und der sonst so doofe Wind zaubert eine hübsche Regenbogenfahne. Als ich oberhalb des Fossen auf dem Parkplatz das Rad abstelle, stelle ich enttäuscht fest, dass die Sicht von hier nix taugt. Ich drehe mich um und sehe statt dessen mein Rad auf der Seite liegen. Ja, der Ständer, die bisher beste Investition, hat aufgegeben. Genauer: die beiden Schrauben sind gerissen. Vermutlich hat der Wind hinterhältig am fein austarierten Lenker gezerrt, diesen zur Seite geworfen, und der Schwung war dann zuviel für die armen Schräubchen. Jetzt fluchen ich lauthals. Grrr.

Hübsch.
Nicht hübsch.

Trotzig rase ich weiter, Pause gibt es jetzt erst recht nicht. Ich jage jetzt Kaffee und Süßteilchen. So. In Vossevangen nehme ich 30hm in Kauf dafür. Auf Empfehlung einer Passanten hin lande ich in einer „Bakeri“ (was das wohl heißt?) und finde Süßteilchen. Kaffee will ich so verschwitzt im Trikot nicht drinnen trinken, draußen ist ne Hauptstraße. Auch durch die fast-Fußgängerzone fahren ständig fette Karren. Trotzdem suche ich mir dort ne Bank und vertilge die heiß begehrten Kalorien, trinke dazu aus meinen Radlflaschen. Boah, viel zu viele Leute, Lärm, Betrieb… hätte ich eigentlich von Odda noch wissen können. Die Hoffnung auf ein gemütliches ruhiges Café wie in Drammen hat mich getrieben. Also doch nix mit Pause und weiter.

Großes Örtchen mit Einkaufsstraße und jeder Menge Mampf.
Mein Mampf für den Kampf.

In 20km gibt es nen Joker. Das ist ne Supermarktkette, die auch sonntags geöffnet hat, recht kleine Läden hat, aber unglaublich gut sortiert sind. Da will ich Pause machen. Bis dahin ist viel Verkehr. Ich bemühe mich, nicht aufzuhalten, gerade den großen Lastern will ich nicht zur Last werden. Immer geht es nicht. Es ist stressig. Puh. In der Ferne zeichnen sich hohe Berge ab. Und das Schild, das einen Schneekettenanlegeplatz für LKW ausweist, verheißt die nächste Steigung. Yay. Trotzig wie ich bin, kämpfe ich mich mit Zimtschneckenantrieb hinauf und sinke letztlich ziemlich erschöpft auf die Bank vor dem Joker.

4 Farbstreifen
Bald bergauf. Wie schön.

Neben mir machen 3 Busfahrer Pause. Ich versuche herauszufinden, warum mein Garmin meint, ich müsse noch 500hm hinauf – das würde ich trotz beliebig vieler Süßteilchen heute nicht schaffen, passt aber so gar nicht zu dem Landschaftsprofil, das ich im Kopf habe. Ich frage die edlen Herren, und erfahre, dass der Stalheimskleiva Vegen gesperrt ist. Das wäre die Umfahrung zweier Tunnels für Radler, und mit 18% die steilste offizielle Straße, und das immerhin auf 1km! Aber ich darf durch den Tunnel rollen, und werde damit Aussicht und Nervenkitzel gegen Bremsbeläge und Zeit tauschen. Ist mir heute recht.

Teils stehen die alten Brücken noch und sind durchaus sehenswert.
Irgendwo da hinten muss es in den Sognefjord gehen. Schön auch zu sehen, mit wie viel Abstand ich zumeist überholt werde.

Und tatsächlich rolle ich nur noch runter. Die Tunnels sind steil, ich bin froh, dass ich die nicht hoch muss. Erst 1,2 km, dann 1,1km geht es rauschend hinab. Überholen musste mich da niemand. Und als ich unten herauskommen, sind es zwar noch 8km bis zum Wasser, aber ich verrenke mir den Hals, so hoch sind die Wände hier, so eng das Tal. Wow. Nun bin ich fast da, und bremse trotzdem immer wieder, um Bilder zu machen. Das ist das Schöne am Fahrrad: ich kann jederzeit stehen bleiben und behindere niemanden sonderlich. Aber dann bin ich wirklich da und schlage flink und geübt, nur geringfügig tollpatschig, das Zelt auf. Geschafft, trotz allem.

Tadaaa!

Einkaufen muss ich noch, aber erst nach der Dusche. Den Kilometer bis zum Joker radel ich, auch wenn mir nach 5 Tagen im Sattel jetzt der Hintern weh tut. Laufen dauert zu lange. Der Joker ist Tankstelle, Post, Supermarkt und Fastfoodbude, und vielleicht noch mehr, in einem. Und wie in jedem Supermarkt gibt es auch hier ein Regal mit Süßigkeiten zum selbst zusammenstellen. Kinder mit begrenztem Budget in Form einiger Münzen in der Hand können hier Stunden zubringen, um ihre Tüte Süßkram zu optimieren. Lustig mit anzuschauen.

Der alles-in-einem Outpost. Ein echter Joker halt.
Süßkramwahl, gibt es hier überall.

Am Ufer liegen unzählige Kanus und Kajaks. Scheinbar ist das hier der Renner. Mal schauen, vielleicht schaffen wir es im September noch, das auszuprobieren. Lust hätte ich schon drauf, aber nicht jetzt. Ich hab das Fahrrad, um das Land zu erkunden.

Müssen die gerettet werden? Wollen die nicht lieber schwimmen? Ob ich sie ins Wasser schieben sollte?

So, ich bin immer noch etwas trotzig. Essen hilft, vor allem Schokolade. Aber jetzt ist mir klar, was ich heute früh bereits geahnt hatte. Also, gut, es war mehr als nur ne Ahnung, ich geb es ja zu: Ich brauche nen Pausentag, oder zwei. Ob ich morgen hier bleibe, weiß ich noch nicht. Der Platz ist cool, den gibt es auch schon lange, ist prima in Schuss und recht ausgefallen. So gibt es ne ausgebaute Scheune mit kleiner Musikbühne, Bar, Billiard, und Wikingerthron und vielem mehr. Im Juli rockt die Bude vermutlich ganz schön doll. Nur ist jetzt gerade nix los. Ich wüsste nicht recht, was ich hier machen soll… Naja, erstmal ausschlafen, dann wird es mir schon klarer sein.

Trotz ist ne treibende Kraft. Etwas zu trotzen kann helfen. Und ein bisschen trotzig sein hat ja auch was von Durchsetzungsvermögen. Oder Sturheit. Na, jedenfalls bin ich froh, dass ich meinen Trotz diesem Tagebuch habe anvertrauen können. Ich musste beim Schreiben schon sehr viel über mich selbst schmunzeln, und das ist gut so. Dafür schreibe ich ja auch, um den Tag zu reflektieren. Morgen nehme ich mir die Zeit und lese selbst die letzten Tage durch. Dann weiß ich vermutlich gleich, was wir fehlt. Zum Beispiel ne ordentliche Tastatur…