Tag 30: Jeden Tag ein Fjell

Um 6 klingelt der Wecker. Wer hat den denn bitte gestellt? Wenn es da keinen guten Grund für gibt… Achso, ja, der nahende Regen, das nasse Ungemach. Ich stehe auf. Dank neuer Kopfkissenkonstruktion hab ich besser geschlafen. Bisher hab ich Hose, Pulli, langes Trikot zusammengelegt und unter das Kopfende der Isomatte. Hmm, war immer bissl doof. Früher hatte ich auch schon einfach die Wasserflasche unter die Isomatte gelegt, aber die rutscht doch immer wieder weg. Jetzt hab ich die kurzen Radltrikotsachen und das lange Oberteil in die Hülle der Isomatte gestopft und das Ganze als Kopfkissen verwendet. So werden die Sachen, die ich morgens in der Kühle anziehen will, über Nacht nicht feucht, und es ist bequemer. Ha. 4 Wochen, und es wird weiter optimiert.

Abends hatte ich schon alles für das Frühstück in den Beutel des Schlafsacks gepackt, den ich jetzt zur Küche schleife, um auf dem Herd Tee zu kochen und im Warmen ein paar Scheiben Walnussbrot (das aus Lom) mit Erdnussbutter und Himbeermarmelade (das 4. Glas Syltetøy inzwischen) zu genießen. Naja, eigentlich bin ich gar nicht richtig hungrig, aber ich weiß genau, dass ich sonst in einer Stunde schnell ohne Zucker im Blut und damit ohne Druck auf dem Pedal bin. Essen als Funktion. Hm.

Als ich fertig bin, schläft hier alles noch. Um 8 geht es los. Das Zelt wiegt heute etwa doppelt so viel, denn es ist klatschnass. Auweia. Hoffentlich krieg ich das noch trocken, bevor der Regen los geht. Jetzt geh erstmal ich los und rolle am frühen Sonntagmorgen fast ohne Verkehr und Wind gen Süden.

Mein Schlachtross. Nur mit Mühe kann ich es heben, ne Treppe rauf tragen ist ausgeschlossen. Aber es rollt schön. Ich hab halt etwas Luxus dabei 🙂
10°C, keine Sonne, kein Wind. Perfekt.

Am Jølstravatnet, einem 20km langen See, nehme ich doch das Nordufer, obwohl Tor Ove mir das Südufer empfohlen hatte, da dort die ruhigere und schönere Straße sei. Ruhig ist es aber eh, und ich will heute Höhenmeter sparen. Ältere Straßen haben davon gewöhnlich mehr. Zudem sieht die Südseite schöner aus, und das sieht man im Großen nur von der Nordseite. So wie wenn Du die Wahl hast, in einem neuen, hässlichen Gebäude mit Blick auf das hübsche, alte Gebäude zu wohnen, oder umgekehrt. Jedenfalls sichte ich nicht nur diese schönen Sonnenstrahlen im Seitental, sondern auch noch nen Seeadler. Alles richtig gemacht.

Wolken, Berge, Sonne, See… Ich sollte mal nen knackig kurzen Begriff für diese Kombi erfinden.
Geht schon mit flach, wenn sie wirklich wollen. Die Talwände sind aber auch verzeihend unsteil. Nicht flach, aber nicht steil – unsteil halt. Oder wie heißt das?
Kunst am Ende des Sees. Der Realismus ist umwerfend.

Zeit für die erste Pause, denn 45km sind schon geschafft, es ist 10 Uhr, Zeit für das 2. Frühstück. Gestern beim Bäcker gab es nicht nur Backwaren, sondern auch Fastfood. Und von der Pizza waren noch Stücke über, die sie kurz vor Ladenschluss günstig verscherbelt haben. Meine Informatikervergangenheit schlug voll durch, und ich nahm gleich 2 mit. Kalte Pizza vom Vortag auf großen Hunger, das weckt Erinnerungen!

P. G. A. = på grunn av = auf Grund von. Hält nicht mehr lang, muss weg. Gibt es auch im Supermarkt gelegentlich.

Gerade bin ich am Mampfen, rollt ein Rennradler… Nein, ein sehr leicht bepackter Reiseradler ein! Wow, so kann das gehen? Justin hat gerade seinen Bachelor fertig und nimmt sich etwas Zeit, bevor er sich ins Arbeitsleben stürzt. Recht so. 2 Wochen ist er mit dem bisschen Gepäck bereits unterwegs, da sind sogar Schlafsack und Zelt dabei, aber kein Kocher, 2. Paar Schuhe, Essen für 3 Tage, und ganz sicher keine 400g Marzipan, mein Emergency Fuel, oder sonstiger Luxus wie Buch, Sprachführer oder DSLR Kamera. Aber da kann ich was von lernen. Wir fahren ein Stück zusammen, was gut geht, bis der erste kleine Hügel kommt. Da merke ich den Unterschied. Aua. Naja, für’s Training kann das Rad nicht schwer genug sein.

Bike Packing nennt sich die Disziplin, und das Rad fällt in die Kategorie Gravel Bike. Nice.

Er düst viel auf großen Straßen dahin, ich bevorzuge ja die kleinen, abgelegenen. Und so trennen sich unsre Wege schnell wieder, als ich in Richtung meines heutigen Fjells abbiege, dem Rørvikfjellet. Ja, auf dem Schild steht ein anderes, aber das kommt erst morgen, ist auch das Höhere. Da Justin nicht weit von mir daheim wohnt, treffen wir uns vielleicht mal auf ne Tour im Odenwald. Er ist auch ne Bergziege, das passt also.

In Dragsvik werde ich den Sognefjord queren, und dann geht es übers nächste Fjell nach Voss. Das sieht gerade echt noch ganz schön weit weg aus. Puh.

Kaum bin ich von der schnöden, vielbefahrenen E39 runter, ist Ruhe, und ich kann direkt mit dem Genießen anfangen. Ja, die kleinen Straßen sind’s. Und weil es bergauf geht, finde ich neue Ausreden für kurze Pausen, nämlich Grünzeug fotografieren. Ist bisher viel zu kurz gekommen, will ich gern noch ein wenig nachholen. Nach ein wenig Regen sieht es auch schon viel grüner aus.

Ein Wald aus Moosen am Wald. Niedlich!
Okay, hier benötige ich Botanikerunterstützung. Vor allem: essbar? Und wenn ja, wie oft?
Schön ist auch der düstere Wald voll Moos. Kuschelig. Da will man Troll sein.

Puh, ja, in der Ebene fahren verwöhnt ganz schön. Es geht in Wellen bergan, gelegentlich etwas runter, aber mehr rauf. Und dann noch mehr rauf. Ich hatte erst überlegt, ob ich bis Dragsvik durchziehen könnte, allerdings erscheint es mir gerade eher unwahrscheinlich, dass ich morgen dann überhaupt weit fahren könnte. Ich hab mir auch schon ne schöne Hütte für heute ausgesucht, die steuer ich erstmal an und schau dann weiter. Ab da wären es noch 45km und 400hm bis Dragsvik, also ne halbe Tagesetappe. Mal sehen.

Da fällt mir ein weiterer Pausenzeitvertreib ein, nämlich Bächlein ablichten. Wasser fließt hier in vielen Formen vom Berg, ne kleine Auswahl will ich kurz zeigen. Übrigens alles bedenkenlos trinkbar, wenn nicht gerade Schafe herumlungern.

Typ 1: zahmes Bächlein zwischen Moorbirken und Blaubeeren. Idyllisch.
Typ 2: der Moosfall vor Granit. Puristisch.
Typ 3: Felsentreppe gerahmt von Moos und Farn mit Andeutung von da-geht-noch-mehr. Rauschend.

Immer schön viel Pausen machen, und schwupps, schon ist man oben. Die Aussicht ist mal wieder fein, und das zweite Pizzastück wird regelrecht eingeatmet. Ein Rennradler kommt daher, wir unterhalten uns. Er fährt seit 20 Jahren, im Winter mit dem Mountainbike und Spikereifen. Ich beneide ihn maßlos. Hier hat es so wenig Rennradler, dass man sich gern ein wenig unterhält. Das ist schön. Der Odenwald ist ja derzeit derart vollgestopft, da höre ja sogar ich auf zu grüßen. Er fährt in die andere Richtung, also genieße ich die Abfahrt alleine. Heute ist es nicht ein großer Buckel, sondern mehrere kleine. Jetzt erwarten mich nur noch 250hm, dann hab ich es geschafft. Oder ich ziehe durch… Mal sehen.

Oben auf dem Rørvikfjellet, in der Ferne immer noch der Jostedalsbreen.
Alte Brückenreste in Viksdalen. „Vik“ heißt übrigens „Bucht“, drum gibt es hier viele Namen mit Vik-dies und Vik-das.

Auf den letzten Metern werde ich doch langsam. Heute ziehe ich nichts mehr durch. Sehnsüchtig erwarte ich Hov Hyttegrend, dessen Rezension viel versprochen haben. Aber nicht zu viel. Es ist irre knuffig hier! Verstreut im lichten Kiefernwald stehen kleine Hütten mit Gras und Bäumchen auf den Dächern. Einfach eine aussuchen, Schlüssel steckt, Rezeption ist erst abends besetzt. Zumindest jetzt in der Nebensaison läuft das so.

Der Vertrauensvorschuss, den ich hier oft erfahren darf, ist gewaltig, und führt mich zu einem wie selbstverständlich verantwortungsvollem Umgang – eben nicht wegen Regeln und Kosten und Verboten, sondern wegen Vertrauen, das mir entgegen gebracht wird, und dass ich ganz natürlich nicht enttäuschen, sondern eher bekräftigen will.

So kann ne Rezeption gestaltet sein, liebe Hotelfachleute.
Meine Hytta. Das Zelt steht in den Blaubeeren zum Trocknen. Geht auch ohne Sonne ganz fix.
Zwischenmahlzeit. Statt sie einzeln zu essen, mag ich es, mir gleich ne halbe Hand voll in den Mund zu werfen und Instant-Marmelade zu machen.

In Hörweite ist ein kleiner Wasserfall. Überhaupt sind entlang der Straße etliche davon, so dass ein Wanderweg eingerichtet wurde. Gegen die Wasserkraftindustrie hat man sich erfolgreich gewehrt und das alte Turbinenhäuschen wurde nicht modernisiert. So bleibt der natürliche Wasserlauf mit voller Menge erhalten. Die Steine lassen ahnen, was hier fließen kann.

Der Likholefossen mit stylischer Fußgängerbrücke drüber, die mich aber in den Fotos stört. Links das alte Maschinenhäuschen.
Hmm, ist da noch was zu machen?
Mit der Kamera hab ich schöne Langzeitbelichtungen gemacht, mit dem ollen Handy geht das nicht. Grrrr.
Ja ja, 3 Bilder vom selben Wasserfall… Aber ehrlich, die Sonnenstrahlen rocken einfach. Idyllisch, mal wieder.

Abends gibt es endlich mal wieder Ertestuing, Erbseneintopf. Die Hütte hat Dusche und Küche, ist zweckmäßig aber vollständig eingerichtet. Perfekt. Hier wäre ich gern 3 Tage geblieben, um den Regen auszusetzen, aber der Regen dauert länger. So muss ich morgen schon früh weiter ziehen. Schade. Aber hierher komm ich nochmal, das ist sicher.