Tag 36: Berge im Nebel, Pause am Tinnsjå

Nix mit Strava heute. Nix mit früh aufstehen. Nix mit husch husch und los los. Nachts tröpfelt es romantisch aufs Zelt und ich schlafe bis 8 Uhr aus. Irgendwann landet ein Vögelchen auf dem Zelt und piepst wild. Ob da jemand Brotkrümel einfordern will? Nicht mit mir, also nicht jetzt. Später.

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Die Morgenstimmung überträgt sich. Ich bin ruhig und entspannt.

So regnerisch ist es heute gar nicht, aber die Berge sind komplett in Wolken. Ein paar Norweger erzählen später dass sie auf den Gaustatoppen gewandert sind, ein in dieser Gegend mit 1883m herausragender Berg, von dessen Gipfel man 1/6 Norwegens sehen kann. Könnte. Heute sieht man nicht viel, aber die Wanderung sei trotzdem nett gewesen. Zum 3. Mal bin ich hier bei diesem Ausguckberg, und wieder keine Sicht. Verfloxt.

Ich frühstücke und lade Akkus. Zur Abwechslung gibt es nen anderen Saft, nämlich Preiselbeersaft, sauer und sehr lecker. Die wachsen hier reichlich, so dass gestern ein Bayer, der alleine unterwegs war, der Sammelwut erlag und spontan Marmelade gekocht hat, und heute ergeht es einer Studentin ähnlich mit Preisel- und Blaubeeren. Das Leben ist schon hart.

Die Campingküche hier ist super, und es gibt überdachte Tische direkt am See. Perfekt.

Shoppen muss ich noch, und bei dieser toll ausgestatteten Küche kann ich sogar Gemüse in der Pfanne machen. Zum Glück gibt es einzelne Zwiebeln zu kaufen, dazu geschnittenes Tiefkühlgemüse und Kartoffeln, sowie die inzwischen 5. Halbliterflasche Öl. Oh, die Erdnussbutter ist ja auch fast leer… Na, für ein Frühstück reicht es gerade so noch. Da fällt mir ein, dass ich Erdnussbutter ja auch ins Essen machen könnte! Warum erst jetzt? Schnell, ich brauch Rezepte!

Einen Bäcker gibt es hier auch, der ist gleichzeitig Café und Dorftreff. Und da gibt es tatsächlich Sauerteigbrot aus dem Holzofen! Ja, mit etwas Glück muss man hier nicht darben. Da freue ich mich schon auf morgen früh! Und Kuchen, hmm, so nen ganzen kleinen Kuchen mit Persipan? Ja klar, den krieg ich weg, und wenn nicht, dient der Rest morgen als Süßteilchen für unterwegs. Morgen ist ja Sonntag, und da hat so gut wie alles zu, und Tankstellenware muss nun doch nicht sein.

Vom Zeltplatz führt ein Pfad über die Insel ins Zentrum. Also „Zentrum“ ist übertrieben, eher: die große Kreuzung mit Tanke, Supermarkt und Bäcker. Aber das ist halt das Zentrum. Also dahin führt der kleine Pfad, und zwar über eine Insel. Derzeit ist aber der eine Wasserlauf der die Insel zur Insel machen soll, trocken.

Und die Trockenheit ist echt ein Problem. So sehr, dass die geplante Unterkunft, in der wir gern am Sognefjord bleiben würden, uns absagen muss, denn nach Monaten ohne Regen ist die Quelle versiegt. Sie bauen Wassertanks auf für Dusche und Klo, und kaufen Wasserflaschen zum Kochen. Auweh. Auch so ziemlich alle größeren Seen sind deutlich unterfüllt, auch hier am Tinnsjå ist deutlich zu sehen, dass der Wasserstand ein paar Meter höher sein sollte.

Warum ist’s mal wieder richtig Sommer? Ein Sommer, wie er früher niemals war?
Hier kann ich schnell arm werden. Schnell entscheiden, dann Augen zu und raus, sonst gibt’s ein Unglück.

Den Tag verbringe ich mit lesen, essen, unterhalten, essen, Unterkunft suchen, essen, Fahrradroute schon wieder neu planen. Und essen. Der Kuchen ist übrigens sehr lecker, wenn auch nicht so ansehnlich, dass mir in dem trüben Licht ein brauchbares Bild gelingen will. Jeder kennt die Bilder von Gerichten, die einfach nur bäh aussehen, obwohl das Essen eigentlich super lecker ist. Muss nicht sein. Food Photography ist ne Kunst für sich. Mit Brot schaff ich das inzwischen halbwegs, aber mit anderem Mampf klappt das eher selten.

Gelegentlich verirrt sich ne Wolke dann doch mal bis ganz nach unten.

Ja, außen passiert heute nicht viel. Und in mir? Die Frage stelle ich mir auch und warte auf Antworten. Erkenntnisse. Vieles habe ich bereits gesagt, aber ein Resümee taucht noch nicht auf. Es fehlt die konzentrierte Reflektion, oder Abstand gewinnen. Beides klappt gerade nicht, denn für die Reflektion ist das Schreiben, das ja eher ein Selbstgespräch ist, gerade zu dünn. Und Abstand hab ich nicht, da noch mitten drin.

Jedenfalls habe ich seit Tagen (oder Wochen?) nicht mehr in den Begriffen gedacht, die noch vor 2 Monaten mein Leben dominiert haben. Der Lebensrhythmus ist völlig anders. Der Abstand zum alten Arbeitsleben so groß, dass sogar der Kontrast von Büro zu hier verblasst. Irgendwie war früher anders, jetzt ist besser. Ich versuche mich zu erinnern, wie ich meinen Wecker je nach anstehenden Meetings gestellt habe, meine Essenspausen nach der Arbeit getaktet waren, und meine Gedankenwelten alle halbe oder ganze Stunde wechseln mussten, oft zwischendurch mit zahlreichen Unterbrechungen, so dass ich mich selten tief und entspannt einem Thema widmen konnte. Urks, wenn ich das lese, klingt es gruselig.

Ja klar, ich brenne noch immer für gute Software, für User Experience, und wie man das erreicht. Ich bin immer noch irre neugierig darauf, auszuprobieren und zu erfahren und erforschen, wie wir besser und bessere Software bauen können. Gerade heute wurde ich wieder gefragt, was mein Job ist, und ich habe leidenschaftlich erzählt. Aber hoffentlich kann ich diesen Arbeitsmodus vermeiden, der es mir erscheinen ließ, als wären Pausen unmöglich, weil es immer zu viel zu tun gibt.

Oben vernebelt, unten verschwommen reflektiert. Äh. Das trägt als Metapher jetzt nicht wirklich.

Ich werde mich langsam zurückfinden und aufpassen müssen, dass mich die Leidenschaft für die Sache nicht aufzehrt. Ein Freund hat mich vor einiger Zeit bereits gewarnt, dass man so in ein Burnout rennen kann, so wie es ihm passiert war.

Inzwischen regnet es beständig, ich sitze im Zelt und lausche dem Tröpfeln. Morgen früh soll es aufhören, und im Laufe des Tages sogar die Sonne ein bisschen durchkommen. Also kann ich weiter, und werde wieder in die Höhe kraxeln. Vorhin haben sich zwei Pizza gemacht und ich hab wohl zu hungrig geschaut, wir haben uns kurz an der Ofentür unterhalten und später bringen sie mir 2 große Stücke, die ihnen zu viel waren, und die ich dankbar und gern gegessen habe. Jetzt ist ein Teil meines Abendessens in der Lunchbox, in der ich sonst nur den Käse transportiert hatte. Damit gibt es morgen neben Süßteilchen sogar ein Mittagessen! Und Marzipan hab ich auch noch… Alles wird gut.