Tag 39: Zurück nach Dalen am Bandak

Ein Grad. Brrrrr. Ein popeliges Grad hat die Nacht mir gelassen, um den Tag anzufangen. Der Himmel ist klar, und alles ist nass vom Tau. Ich glaube, so nass war das Zelt noch nie. Da die Etappe heute verhältnismäßig kurz ist, habe ich bis 8 geschlafen, und hoffe, dass es die Sonne bald über den Berg schafft. Müsli und Tee genieße ich am stillen Fluss, natürlich in die Daunenjacke eingekuschelt. Bald schafft es die Sonne, und das große Trocknen kann losgehen. Zweimal ziehe ich das Zelt in die Sonne und packe es als letztes ein. Den vom Atem feuchten und vom Innenzelt vollgetropften Schlafsack lege ich auf einer Holzbank in die Sonne. Wird schon.

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Alleine reisen ist bemerkenswert wortlos. So vergehen die 2 Stunden, bis ich abfahrbereit bin, ohne ein gesprochenes Wort. Zu zweit würde man sich stets austauschen und abstimmen, egal wie eingespielt man ist. Inzwischen habe ich mich daran gewöhnt, auch daran, dass es nur mein Tempo gibt. Ich bin gespannt, wie das zu zweit werden wird. Aber abends hab ich ja gelegentlich Gesellschaft, und da läuft die soziale Synchronisation wie gewohnt, also stelle ich mich jetzt nicht auf massive Umgewöhnung ein. Jetzt gerade genieße ich es so aleine und wortlos und selbstbestimmt.

Bis ich um kurz nach 10 mit weitgehend trockenem Zelt loskomme, sind es 8°C und ich lasse die langen Sachen an. Nach 3 km kommt der Anstieg, der stetig mit 7% Steigung rund 400hm erklimmt, wobei mir nach 50hm bereits der Schweiß läuft und die langen Sachen hinten auf die Gepäckrolle wandern. So ist es besser, sogar im Schatten.

Der letzte sonnige Tag fürs erste. Passt bestens zu diesem pittoresken Tal.

Irgendwann höre ich ein regelmäßiges Klopfen. Vom Fahrrad scheint es nicht zu kommen, nein. Aber es erinnert mich an etwas. Aber was? Ah ja, genau, der Felsspecht, ääh, also, der Rollskifahrer am Sognefjell. Und tatsächlich kommt wieder einer angerauscht, irre schnell den Berg hoch. Er lässt sich auf mein Tempo herab, denn er dreht gerade nur eine kleine morgendliche Runde, und wir quatschen.

Aron Åkre Rysstad lebt von diesem Sport, ist Profi-Langläufer und beantwortet geduldig meine Anfängerfragen, der ich noch nie nen Rollski aus der Nähe gesehen habe. Ich muss mir mal dringend so nen Wettkampf anschauen. Er dreht bald um, sprintet vorher die letzten Meter – ich sprinte mit! Aber er zieht mit über 20km/h die 7% Steigung hinauf an mir vorbei – wow. Wir vernetzen uns auf Strava, ich bin gespannt, was für Touren und Zeiten er so fährt. Dann dreht er um und düst hinab, mit 70, 80, manchmal sogar 90 km/h, gebremst wird mit Pflugstellung und vermutlich wild qualmenden Rädchen. Krass.

Sogar die Schafe sind schneller als ich. Eben gucken sie noch niedlich, aber ungekämmt zieren sie sich vor der Kamera.
Hier war ich schon mal vor gut 4 Wochen. Ja, jetzt ist genug mit Idylle hier. Das Setesdal sieht mich jedenfalls wieder, wandern kann man da nämlich auch sehr schön.
Hier war ich auch, aber da floss deutlich mehr Wasser. Ich Vergleiche die Bilder, der Unterschied ist erheblich. Tja, entweder Sonnenschein oder tolle Wasserfälle.

Schön einsam ist die Straße, nur alle paar Minuten kommt mal ein Auto, einmal sogar ein Radler entgegen. Das letzte Mal, an Tag 7, war ich noch ganz hin und weg von der großen weiten Landschaft hier, inzwischen hab ich mehr gesehen. Es ist immer noch schön, aber es geht eben weg vom schönsten Teil, eher hin zum gemäßigten. Eigentlich wäre es auch toll, zurück bis Oslo zu fahren, die Entwicklung rückwärts zu erleben. In Gedanken kann ich das noch tun, denn ich weiß noch unglaublich viele Details, dank Blog und langsamer Reisegeschwindigkeit. Die Variante, von Oslo mit vielen Stopps zum Fjord zu fahren, kann ich jedenfalls sehr empfehlen. Gern dann noch bis an die Küste, das taugt auch sehr.

Die Achterbahn im Fjell, das werde ich vermissen.
See, Berg, Straße, Weite… das Übliche Idyll.

Geklettert war ich wieder schnell, eilig hab ich es nicht, also kann ich gediegen Pausen machen. Erst am Wasserfall mit Zuhause telefoniert, dann am See Käsebrote gegessen. Hier gibt es Nøkkelost, das ist Käse mit Kümmel und Nelken, sehr lecker. Zusammen mit Tomatenmark auf dicke Brotscheiben gibt das mein Lunch.

Kein Troll weit und breit, der mich ärgern könnte, also kann ich ne Pause riskieren.

Endlich geht es nur noch bergab. Irgendwie waren die letzten zwei Tage doch anstrengend, und heute tritt es sich doch schwerer. Erstaunlicherweise gehen lange Anstiege gut, aber diese Achterbahn, das stete Auf und Ab, das zehrt ganz schön. Belastungswechsel sind es wohl, die ich heute nicht so gut wegstecken kann. Also huiii, die lange steile Abfahrt zum Bandak geht es in engen Serpentinen hinab! Laut johlend und lachend komme ich unten an und lass mich gemütlich in den Ort rollen, um gleich mal im Supermarkt einzufallen. Was brauche ich eigentlich alles? Inzwischen habe ich ne feste Einkaufsliste und hake nur noch an oder ab. Yay, Marzipan! So viel Emergency Fuel brauch ich sicher nicht mehr, aber schaden tut es auch nicht. Bei Marzipan lasse ich mir von „brauchen“ vorschreiben, ob ich es kaufe oder nicht.

Fast wie ein Fjord. Fjordesque, sozusagen. Die nächsten Tage laufe ich mal da oben am Rand lang, da führt ein Wanderweg entlang.

Der Zeltplatz hier war super, jetzt ist Saisonende und der Platz schon recht leer. Ich sehe nur ein Zelt und sonst niemanden. Aber die Gebäude sind offen, auch wenn die Rezeption unbesetzt ist. Die Sonne steht auch schon viel tiefer als noch vor einem Monat, und will sich bereits am frühen Nachmittag hinterm Berg verkrümeln, muss aber noch mein Zelt fertig trocknen. Schon wieder muss es husch husch, und ich unter die Dusche und Sachen waschen. Diese kurzen Tage bringen Stress, solange es hell ist, dafür viel Ruhe, sobald der Tag rum ist.

Da, das wird mein Tattoo! Genau so will ich das haben.

Ich schaue nochmal bei der immer noch unbesetzten Rezeption vorbei, da trudeln zwei Reiseradler ein! Niemand da, und dann sowas. Freudig begrüße ich sie, sie freuen sich, ich zeige ihnen den Platz, kenne mich ja vom letzten Mal hier noch bestens aus. Clarisse und Romain sind vor 5 Monaten in Grenoble gestartet. Sie haben die Wohnung aufgelöst, Jobs gekündigt und nehmen sich ne Auszeit. Erst wollten sie nach Australien, Neuseeland, mit nem Camper herumreisen. Aber das war ihnen dann zu viel CO2 für ihr Vergnügen. Also der Entschluss, Europa mit dem Fahrrad kennen zu lernen, angefangen mit ihrer ganz eigenen Tour de France. Den Winter werden sie in Trondheim verbringen und kommen dort per TravelWorks unter: Arbeit gegen Kost und Logie.

Wir kochen und essen zusammen. Die Franzosen gönnen sich natürlich ein richtiges Gericht, und merken auch an, dass es nirgendwo auf ihrer Reise so gutes Essen zu kaufen gibt wie bei ihnen im Land. Das muss ich neidlos zugestehen. Nach Norwegen kommt man definitiv gar nicht wegen der kulinarischen Vielfalt. Die armen, ich hoffe, die Erlebnisse und die Landschaft entschädigen hinreichend.

Einig sind wir uns darin, dass das tollste am Reisen die Begegnungen sind, sowie das selbstbestimmte Handeln. Natürlich gibt es immer Gegebenheiten, die das Handeln einschränken, seien es Wetter, Wege, Budget oder Fahrpläne, aber niemand anderes bestimmt über den Terminkalender. Diese Freiheit von Zwängen und die Freiheit zum selbstbestimmten Handeln sind herrlich. Ich muss versuchen, das im Job irgendwie einigermaßen umzusetzen, sonst brauche ich bald wieder so ne Pause. Das wäre aber keine Lösung, nur Symptombehandlung. Mal sehen, was da geht.

Ich mag auch die intensive Abwechslung zwischen spannendem Austausch und stundenlang alleine wortlos durch die Welt gleiten. Im Deutschen gibt es ja den Begriff der Waldeinsamkeit, des schönen Gefühls, alleine im Wald zu sein. Ich möchte gern den Begriff der Radeinsamkeit prägen: das gute Gefühl, ungebunden und alleine mit dem Rad in der Welt unterwegs zu sein. Ob das für ne Stunde daheim oder für ne Weltreise ist, ist egal, das Gefühl kommt in mir immer wieder schnell auf. Vielleicht passt das Wort gut auf mein zukünftiges Tattoo…

Fahrrad müde, Fahrrad schlafen. Dann mach ich das besser auch mal.